Ich bin gerade zum ersten mal in meinem Leben im Meer abgetaucht und drehe mich eher unfreiwillig als freiwillig um alle drei Achsen. Es blubbert überall um mich herum und ich bewege mich etwas unkontrolliert.
Der Guide kommt zu mir und deutet mit beiden Händen irgend etwas an, was ich als “Mach langsam Junge, entspann dich, alles cool!” interpretiere.
Und es klappt, es funktioniert.
Ich bin schwerelos. Ich spüre kein Gewicht und keine Schwerkraft mehr..
Ich kann mich mit einem kurzen Flossenschlag nach vorne bewegen und mich mit einer kurzen Handbewegung um meine eigene Achse drehen.
Vollkommen frei, hoch, runter, rechts, links, egal. Das hat nichts mit der Vorstellung von Tauchen zu tun. Es ist eher ein Fliegen oder Gleiten.
Wir gleiten, so würde ich es zuhause beschreiben müssen und man würde es trotzdem nicht verstehen.
Ich fange an, das was um mich herum passiert, langsam wahrzunehmen. Und obwohl es unter Wasser eher leise sein sollte, wird es richtig laut.
Leuchtendes Leuchtgelb, pastelliges Leuchtgelb, tiefes Leuchtgelb. Signalfarbenartiges tiefes Leuchtorange, feuerrotes strahlendes Rot, satt glimmendes Smaragdgrün, dunkles Strahlgrün, pastelliges Leuchttürkis, helles Türkis, sattes Türkis und strahlend dunkles Türkis. Wunderschönes Hellblau bis hin zu tiefem Dunkelblau und leuchtendem Lila.
Sogar das Schwarz, jede Farbe scheint von sich heraus zu strahlen
Ich mache mit Medien und kenne die Farbspektren im Film und Print. Aber das ist alles lächerlich gegen das, was ich gerade sehe.
Unglaublich was sich hier tut, ich sehe eine Million verschiedenen Farben und zwei Million Fische.
Unter mir schwimmen Fische vor mir her, links schwimmen Fische an mir vorbei. Ich blicke nach rechts und sehe Fische an Korallen herumkauen. Wieder andere stehen einfach nur im Wasser.
Nach kurzer Zeit erkenne ich ein gewisses soziales Verhalten. Große Fische vertreiben kleine derselben Gattung, lassen nach ein paar Flossenschlägen wieder von ihnen ab. Andere schwimmen einfach nur nebeneinander her und an mir vorbei. Wieder andere sind anscheinend auf einer einzigen Koralle beheimatet. Und andere schwimmen um sie herum und legen größere Strecken zurück.
Alles wirkt so friedlich und unberührt und ist doch mit dem Treiben einer Fußgängerzone am Samstagnachmittag vergleichbar. Sie glotzen mich alle an, als stimme irgendwas nicht mit mir. Ich komme mir ertappt vor. Als gehöre ich nicht hier her.
Ich erlebe zum ersten Mal, was ich die nächsten Jahre jedem erzählen werde:
Wer nicht taucht, hat die Welt nicht gesehen!
Und so geht es unzählige Minuten weiter. Ich vergesse die Zeit. Wo ich bin, was ich eigentlich mache. Ich nehme es einfach nur noch auf.
Verarbeiten geht eh nicht mehr und meinen Luftvorrat habe ich sowieso nicht mehr im Blick.
Zum Schluss passiert mir das peinlichste das ich mir damals vorstellen konnte:
Ich beende den Tauchgang am zweiten Atemregler meines Guides.
Ich habe keine Luft mehr.
Irgendwie habe ich das Gefühl, ich müsste mich dafür entschuldigen und gebe meinem Guide am Abend noch eine Kleinigkeit an der Bar aus.
Ich bekomme erklärt, was welcher Fisch war, warum dieser so und der andere so aussieht.
Ich werde nach Fischen gefragt – die ich gesehen zu haben glaube aber dann doch wieder nicht… Ich kann mich nicht mehr erinnern.
Unglaubwürdig wird es, als der Guide die Geschichte von durchsichtigen Fischen erzählt, die wohl Glasfische heißen und einen Sonnenbrand bekommen könnten.
Ich werde daran erinnert, was das Buddysystem eigentlich bedeutet, das man aufeinander zählen kann, sich vertraut. Dass coole Taucher ihr Wissen teilen und nicht für sich behalten. Und jeder schon mal aus der Flasche des Buddys geatmet, jeder mal klein angefangen hat.
Zum Schluss erklärt mir mein Guide seinen persönlichen Sinn des Ganzen – die Erkenntnis, dass alles eins ist.
Dasselbe Wasser, dieselbe Luft, eine Menschheitsfamilie. Wir tauchen alle in dem Gleichen in dem Einen.
In dem, aus dem wir sind.
Im Gespräch bekomme ich immer mehr das Gefühl, etwas ganz Großes entdeckt zu haben. Für mich persönlich zumindest. Das Gefühl, eine neue Welt gefunden zu haben. Vielleicht auch eine neue Einstellung mir selbst und anderen gegenüber. Wenn es nur das gewesen wäre!
Das Verständnis für das Eine hat dann doch noch etwas länger gedauert.
Ich habe diesen Guide nie wieder gesehen aber das Gespräch bis heute nicht vergessen und versuche diese Einstellung auch heute noch weiter zu geben.